Symbolbild einer Frau im Frauenhaus: Eine Frau in einem dunklen Gang, man sieht ihr Gesicht nicht
Ragna Schmidts Blog

Reportage: Frauenhaus – Der Weg in die Freiheit 

Vier Schritte vom Fenster bis zur Zimmertür.
Zwei Schritte vom Bett bis zur gegenüber liegenden Wand.
Ein Schrank, ein Waschbecken, eine Gemeinschaftsküche. Es ist nicht viel, was sie zurzeit ihr Zuhause nennt, aber es ist mehr als das, was sie hinter sich gelassen hat. Endlich hat sie einen Ort, an dem sie sich sicher fühlt.

Für das Magazin Moinquadrat habe ich regelmäßig hinter die Kulissen sozialer Einrichtungen in meiner Region geschaut. Meinen Besuch im städtischen Frauenhaus werde ich nie vergessen.

Ich lasse meinen Blick durch das Büro schweifen, während ich auf die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses Flensburg warte. Der Raum ist voller Blumen: ein noch nicht ausgepackter Strauß auf einem Beistelltisch an der Tür, violette Tulpen in einer Vase auf dem Schreibtisch, Orchideen auf der Fensterbank.

Die Farben setzen sich in den Bildern an der Wand fort, in einer funkelnden Lampe in der Ecke, in einem knallroten Regal voller Ordner. Ich entdecke eine Ausgabe von „Der Hobbit“ im obersten Fach. Vor mir auf dem kleinen Tisch liegen weitere Bücher aus: „10 Gebote für starke Frauen“, und: „Die Frau im Körper“. Hinter mir? Eine Holzkiste mit Spielsachen.

Jede vierte Frau in Deutschland wird Opfer von Gewalt 

Da kommen meine Gesprächspartnerinnen herein. Susanne „Suse“ Steinhoff, eigentlich Arzthelferin und Ergotherapeutin und nun langjährige Mitarbeiterin des Frauenhauses Flensburg, mit kurzen Haaren und weitem Oberteil, begrüßt mich forsch, aber herzlich. Beim Hinsetzen schlägt sie die Beine in der blau gepunkteten Strumpfhose übereinander.

Die schmale Gestalt Marissa Janikowskis, in gedeckteren Farben, ursprünglich Sozialarbeiterin im Hospiz-Bereich und nun für den Frauennotruf zuständig, lässt sich auf dem Sessel neben ihr nieder. Sie hat ein Lachen auf den Lippen.

„Jede vierte Frau in Deutschland wird Opfer von Gewalt“, kommt Steinhoff gleich zur Sache. „Und jede Siebte erlebt sexualisierte Gewalt. Das Schlimme sind oft die Reaktionen von Gesellschaft und Umfeld. ‚Schnelle Schuldumkehr‘ nenne ich das.

Viele geben dem Opfer das Gefühl, selbst verantwortlich für die Geschehnisse zu sein. ‚Warum ist sie nicht früher gegangen?‘ ‚Wenn mich mal einer anfassen würde‘, wird da getönt.“

„Das wahre Geschehen ist viel komplexer und vielschichtiger, als Außenstehende auf einen Blick erfassen können.“

Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle Schichten, Länder und Kulturen

Janikowski erläutert die innere Struktur des autonomen Vereins, der momentan zehn angestellte Mitarbeiterinnen vorzuweisen hat. Mich interessieren mich aber noch viel mehr die Frauen, die diese Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Wer ist von Gewalt betroffen? „Gewalt von Männern gegen Frauen zieht sich durch alle Schichten, Länder und Kulturen“, sagt Steinhoff.

„Vor allem trifft es aber die Frauen, die ökonomisch nicht gut gestellt sind.“

Wie viel Geld vorhanden ist, hat einen nicht unerheblichen Effekt darauf, wie die Situation von den Frauen erlebt und bewältigt wird. Finanziell besser gestellte Frauen können sich beispielsweise heimlich eine eigene Wohnung anmieten. Dafür ist für sie aber zum Teil der „Fall“ tiefer, wenn sie sich entscheiden, eine missbräuchliche Beziehung zu verlassen.

Die beiden erzählen mir von einem nicht lang zurückliegenden Fall, bei dem eine Frau, deren misshandelnder Ehemann 10.000 Euro im Monat verdiente, aus der 200 qm-Villa in eins der zwölf Zimmer des Frauenhauses ziehen musste und nun von Arbeitslosengeld lebt. Der Schock und der Schmerz bleiben derselbe.

Es geht um Macht und Kontrolle …

Marissa Janikowski blättert in einer Broschüre des KIK-Netzwerks zu einer Seite mit einem runden Diagramm. Es zeigt in grasgrüner Kreisform die verschiedenen Gesichter der Gewalt gegen Frauen, mit einem abgegrenzten Feld in der Mitte: „Egal, welche Art benutzt wird, es geht dem Täter immer um Macht und Kontrolle“.

„Das steht absolut im Mittelpunkt“, bestätigen meine Gesprächspartnerinnen. „Ob jemand seine Frau oder Freundin schlägt, mit Worten herunterputzt, von Familie und Freunden isoliert, ihr kein eigenes Geld erlaubt, droht oder ihr persönliches Eigentum kaputt macht – es lässt sich alles auf den Drang nach Macht und Kontrolle herunter brechen. Auf die Alleinherrschaft über die Frau.“

Mir dreht sich der Magen um, als mein Blick die anderen Beispiele auf der Seite überfliegt. Verbrennen. Ihr nicht erlauben zu arbeiten. Schlagen. Würgen. Ständige Kontrolle: Was sie tut, mit wem sie spricht. Sie für verrückt erklären. Ihr die Schuld zuschieben. Sie zwingen, die Anzeige zurückzuziehen. Kinder entführen. Wie bitte?

… nie um die Kinder

„Da gibt es Männer, die sich ihr Leben lang einen Dreck um die Kinder scheren, und wenn die Frau sich aus dem Missbrauch befreien will, mutieren sie plötzlich zu reinsten Helikopter-Vätern“, sagt Steinhoff, als sie meinem Blick folgt. „Aber es geht nicht um die Kinder. Niemals.“

„Es geht darum, die Frau zu kontrollieren.“

Sie erzählen mir die Geschichte einer Frau, die mit ihrem Sohn ins Flensburger Frauenhaus geflohen war. Ihr Mann hatte wiederholt damit gedroht, das Kind an sich zu nehmen. So wurde der Sohn täglich von Mitarbeiterinnen des Frauenhauses zur Schule und vom Schulleiter zurück ins Frauenhaus gebracht.

Bis es dem Vater eines Tages gelang, das Kind nach der Schule abzufangen. Bevor er mit dem gemeinsamen Sohn losfuhr, lief er allerdings über die Straße zum Frauenhaus und klingelte an der Tür. Er wollte seine Frau sprechen. Während sie ihm, unterstützt von anderen Hausbewohnerinnen, die Stirn bot, schlichen sich über die Hintertür zwei andere Frauen zum Auto und brachten das Kind in Sicherheit.

Wer prügelt, ist feige

Das Frauenhaus in Flensburg ist, anders als seine Gegenstücke in größeren Städten, nicht anonym. Wer ein bisschen sucht, wird die Adresse rasch finden. Ebenso wenig gibt es die sonst üblichen externen Erst-Treffen an einem geheimen Ort, von dem aus die Frauen dann ins Haus eskortiert werden.

So eine Öffentlichkeit habe allerdings auch ihre Vorteile. „Wir hatten schon Anrufe von Nachbarn, die uns warnen, dass da gerade jemand über den Zaun reinklettert“, sagt Steinhoff. „Das schützt auch. Und ganz grundsätzlich können wir alle ängstlichen Bewohnerinnen trösten. Männer, die zuhause ihre Frauen schlagen, sind Feiglinge.“

„Es kommt nur selten vor, dass jemand vor Ort die Entflohene zurückfordert.“

Lieber Leid, das man kennt, als Ungewissheit, die neu ist

Das erledigen die Betroffenen leider oft genug selbst, erfahre ich. „Aber dazu kann man keine Statistiken aufsetzen“, erläutert Steinhoff.

„Manche kommen ein Mal zu uns und sind danach bereit für ein eigenständiges Leben. Andere gehen drei, vier, fünf Mal zu ihrem Partner zurück und haben erst beim sechsten Mal den Klick-Moment.“

Wir haben auch schon mit viel Aufwand und Herzblut beim Finden eigener Wohnungen und dem ganzen Prozess des Umzugs geholfen, und dann sitzt beim Hereinkommen dieser Kerl schon wieder lächelnd auf dem Sofa. Das ist nicht immer leicht.“

Ebenso, denke ich, muss es doch mürbe machen, wenn ein junger Neuzugang Steinhoff mit den Worten „Oh, hallo, ich war damals schon mit meiner Mutter hier“ begrüße. „Ja, die Strukturen wiederholen sich“, sagt sie. „Das ist bewiesen.

Situationen, die uns vertraut sind, stellen wir immer wieder her.

Töchter von Alkoholikern suchen sich nicht selten Partner, die wieder Alkoholiker sind.“

Hirn und Bauch

Wird beim Eingangsgespräch, in dem eine Art Schutzplan für die Betroffene aufgestellt wird, eine Extremgefährdung festgestellt – meine Gesprächspartnerinnen sprechen von sogenannten „Hochrisikofällen“ – müssen die Frauen Flensburg verlassen, weil bspw. selbst das Einkaufengehen eine Gefahr wäre. Die Kooperation mit der Polizei ist gut.

„Man könnte es so sagen: Wir müssen das Hirn darstellen, während sie der Bauch sein dürfen“, fasst Steinhoff zusammen. „Was meinen sie, was sie brauchen? Wo sind Ängste? Zunächst muss geklärt werden, ob sie in Flensburg bleiben können. Dann begleiten wir beim Erholen, ggf. gemeinsame Konten sperren, Geld für eigene Möbel auftreiben, bei Behördengängen, der Wohnungssuche.“

„Man muss den Blick dafür haben, was jetzt wichtig ist.“

So lange – meistens sind das 2-3 Monate – leben die Frauen im Haus. Das Leben dort ist von Gemeinsamkeit geprägt. „Man könnte es auch Zwangs-WG nennen“, lacht Steinhoff. „Wie sich jeder vorstellen kann, klappt das mal mehr und mal weniger. Luxus findet man dort nicht. Manchmal teilen sich zwei Frauen mit einem Kind ein Zimmer.“

Häusliche Gewalt macht vor allem eins: Einsam 

Dennoch zeigt das Sicherheitsgefühl an diesem geschützten Ort erstaunliche Wirkungen. „Es kam schon vor, dass ich eine Frau am Vorabend aufgenommen hab und sie am nächsten Morgen sprechen wollte, und deshalb in der Küche herumfragte, wo sie denn sei. Dann antwortete die Angesprochene: Erkennst du mich nicht? Ich bin es.“

Das Gefühl, nicht allein zu sein, wirkt allem Anschein nach Wunder. Häusliche Gewalt macht, wie ich erfahre, nämlich vor allem eins: Einsam. Die Frauen schämen sich, ziehen sich zurück, Freunde wenden sich mit den Worten ‚Das kann ich mir nicht länger angucken‘ oder Ähnlichem ab, und der Mann tut ein Übriges, um seine Frau zu isolieren. Ich höre von Beispiel-Aussagen, die die Täter von sich geben:

Meine Frau hat davon keine Ahnung.“

Du hast mich eben provoziert.“

Stell dich nicht so an.“

Oft entschuldigen die Frauen den Täter und verharmlosen das Geschehene dann:

Er ist sonst immer ganz lieb, aber wenn er trinkt …

Er hat mich nicht vergewaltigt. Aber wenn ich nicht mitgemacht hätte …“

Dann zu erkennen, dass anderen dasselbe passiert ist, verändert die Frauen manchmal binnen einer Nacht.

Das Frauenhaus: Zuflucht, Zusammenhalt und Zuversicht

Auch ehemalige Bewohnerinnen, die mittlerweile fest im Leben stehen, bei den wiederkehrenden Weihnachtsfeiern oder Wilma-Frühstücken plötzlich schön, stark und selbstständig zu erleben, bewegt dann sehr.

„Es macht unglaublich Spaß, hier zu arbeiten“, sagt auch Janikowski. „Man lernt so viele tolle Menschen kennen. Erlebt wundervolle Situationen. Es ist unheimlich spannend und vielschichtig.“ Diese positive Einstellung beeindruckt mich tief. Trotz des Grauens, das die Hilfe suchenden Frauen mitbringen, der manchmal nagenden Resignation und der berührenden Fälle strahlt aus den beiden Frauen-in-Not-Mitarbeiterinnen eine leuchtende Kraft.

„Man kann das nicht gut machen, wenn man nicht die richtige Einstellung dazu hat“, fügt Janikowski hinzu. „Ich habe davon gehört und fand diese Arbeit so wichtig. Ich hatte unheimliche Lust dazu.“

Kontrolle ist keine Liebe 

Zum Schluss habe ich eine letzte Frage. „Was kann man Kindern und Jugendlichen, Freunden und Bekannten denn vermitteln, um so etwas zu verhindern? Gibt es irgendwas, das ich als Lehrerin, als Mutter oder Schwester betonen oder beibringen könnte?“ Susanne Steinhoff antwortet, ohne zu zögern.

„Selbstmitgefühl. Selbstbewusstsein.“

„Wer darüber verfügt, wird sich mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit in liebenden Partnerschaften wieder finden oder nicht-so-liebende schneller verlassen, weil er beunruhigende Tendenzen früher wahrnimmt. Wenn ich Öffentlichkeitsarbeit in Klassen betreibe, werfe ich immer Folgendes in den Raum: Wenn jemand anfängt, euer Handy zu kontrollieren, ist das keine Liebe. Eifersucht ist keine Liebe. Es ist Kontrolle.“

Nur Mut, steht auf der KIK-Broschüre, die ich am Ende mitnehmen darf. Ich schiebe sie mir tief in die Jackentasche.

Erschienen in der MOINQUADRAT, 2018

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