Reportage: Alkoholverzicht – Warum es wundervoll ist, nicht zu trinken
Dass Alkohol nicht nur aufmuntert, entspannt und für so manchen unvergesslichen Abend sorgt, sondern als Zellgift auch Organen, Schlafrhythmus und manchmal dem Ansehen schadet, ist eigentlich ein alter Hut. Trotzdem wurden in Deutschland allein 2020 rund 124 Liter pro Kopf konsumiert. Aber was, wenn wir feststellen, dass uns das ausgelassene Feiern nicht mehr gut tut? Hier schildere ich meinen Weg zum Alkoholverzicht – ganz persönlich. Vielleicht erkennst du dich in manchem wieder.
Die Disziplin und ich waren schon immer eher eine Hassliebe. Um es im Facebook-Jargon zu sagen: Es ist kompliziert. Brauche ich Disziplin, um gesund zu leben? Oder killt zu viel Disziplin meine Selbstfürsorge und Spontanität?
Fest steht: Für mich waren es schon immer die Extreme, die mit der Disziplin (oder einem Zuviel davon) einhergingen. Entweder, ich schaufelte meine Freizeit mit sozialen Aktivitäten und Sport zu, oder ich igelte mich ganze Wochenenden lang ein. Entweder, ich aß perfekt clean und healthy, oder ich ernährte mich nur von Knuspermüsli und Schokobrötchen.
Alkohol? Nur am Wochenende. Aber dann bis zum Exzess.
Genuss- oder Effekt-Trinken?
Ich war nie jemand, der die Eiswürfel in seinem Whiskey on the Rocks genüsslich hin und her klimpern lässt, bevor er kostet. Ich mochte Alkohol nicht. Geschmacklich hätte ich zu jedem Zeitpunkt eine Apfelschorle dem Tequila Sunrise vorgezogen. Doch ich trank (und zwar munter) bei jeder Party, jedem Beisammensein mit Freunden.
Effekt-Trinker, das trifft es vielleicht am besten.
Mir ging es nicht darum, dass es schmeckt. Mir ging es um den Rausch. Um das ausgelassene Tanzen, Lachen und Flirten – und manchmal auch darum, eine stressige Woche hinter mir zu lassen. All das gelang mit Alkohol so viel besser.
Was mir nicht gelang: dabei das richtige Maß zu finden. Wieder und wieder schoss ich übers Ziel hinaus, und das nicht nur einige Meter. Die Filmrisse, die ich hatte, könnte ich nicht an zwei Händen abzählen. Der Kontrollverlust, den ich immer wieder erlitt, warf mich mental in tiefe Täler. Wo andere am nächsten Tag lustig-betrunkene Anekdoten miteinander teilten, musste ich nach Hinweisen auf den Verlauf des Abends fahnden. Manchmal in meinem Handy. Manchmal in dem Bett, in dem ich aufwachte.
Walk of Shame – mein Sonntagsritual
Es war nicht so, dass ich betrunken sein wollte. Vielmehr dachte ich, sobald ich einen angenehmen Pegel erreicht hatte: „Das ist perfekt, das soll so bleiben.“ Besser, ich trinke weiter, damit es nicht verfliegt. Die Information, dass der Körper eines Erwachsenen nur 0,1 Promille pro Stunde abbaut, war in solchen Momenten aus meinem Kopf getilgt. Am nächsten Morgen dann die Quittung: Dröhnende Kopfschmerzen beim Aufwachen. Der obligatorisch-panische Check, ob Handy, Portemonnaie und Jacke noch da sind.
Einmal klingelten auf einem Sonntag zwei fremde Männer mit osteuropäischem Akzent an meiner Tür, um mir meinen Personalausweis zurückzugeben. Ich fragte gar nicht, wo sie ihn gefunden hatten – ich war schon auf dem Weg zum Klo, um mich zu übergeben. Wirkliche Erholung am Wochenende? Fehlanzeige. Ein gesundes Selbstwertgefühl, ohne diese chronische Scham für meine suffbedingten Aussetzer? Unmöglich.
Alkoholverzicht? Challenge accepted
Gerade dieser letzte Punkt aber war es, der mich irgendwann nachdenklich machte. Ich wollte mich nicht mehr so fühlen. Ich wollte stolz auf mich und vor allem zu jeder Zeit Herr meiner Sinne sein. Als eine damalige Freundin mir unterstellte, dass ich keine Party ohne Alkohol aushalten könne, nahm ich die Herausforderung an. Ursprünglich nur für einen Monat.
„Das schaffst du eh nicht“, sagte sie noch.
Ich lachte. Mochte sein, aber für einen Monat wollte ich es probieren. Ein Selbstexperiment mit unklarem Ausgang, gewissermaßen. Grundsatz war aber, sich währenddessen nicht dem Partyleben zu entziehen. Nur auf den Alkohol wollte ich verzichten. Und zwar ganz.
Ohne Mut-Schwips auf die Tanzfläche
Aber wie ist das, Feiern ohne Trinken? Anfangs: Schwieriger. Alles, was für mich Feiern bedeutete, fühlte sich plötzlich irgendwie ungelenk an. Wie tanze ich, wenn ich mitbekomme, wie komisch manche meiner Bewegungen sind? Wie spreche ich jemanden an, ohne rot zu werden? Was sagt man überhaupt?
Betrunken war ich Meisterin darin gewesen, irgendwelche Connections mit dem Gegenüber an den Haaren herbeizuziehen. Jetzt durfte ich mir bei all diesen Dingen plötzlich genau zusehen – und andere konnten das auch.
Schön waren Reaktionen wie:
„Du strahlst so, ich erkenne dich gar nicht wieder.“
Andere fanden, ich sei langweilig oder könne das mit dem Alkoholverzicht doch nicht ernstmeinen:
„Komm, einer geht doch. Ein Schluck. Das macht doch nichts.“
Viele schienen nicht fassen zu können, dass ich auch dann nicht trank, wenn ich nicht Fahrer war. Was sich dann allerdings meist so ergab – und für Freunde tat ich es ja gern.
Doch Freundschaften, die sich nur auf das gemeinsame Feiern gegründet hatten, zerstreuten sich bald, als hätte es sie nie gegeben. Ich begann zu erkennen, dass sich in manchen Runden die Gespräche immer erst dann entspannt hatten, wenn alle ihre Anfangsschüchternheit in Gin oder Aperol ertränkt hatten. Das war manchmal schmerzhaft, manchmal verblüffend.
Unerwartete Nebenwirkungen
Aber was mich am meisten überraschte, war, dass es mir gar nicht so schwerfiel. Ich vermisste das Trinken nicht. Ich vermisste den Geschmack nicht. Plötzlich hatte ich Sonntage: Zeit für Erholung, Zeit für Hobbies. Klar, nach einer durchfeierten Nacht schlief ich länger. Aber wenn ich dann aufwachte, war ich fit. Keine Übelkeit. Keine Kopfschmerzen. Und vor allem: keine Angst mehr, mich daneben benommen zu haben. Alles, was passiert war, wusste ich noch. All das war in meinem vollen Bewusstsein geschehen. Oder dann eben auch nicht geschehen.
Denn jetzt, wo ich mich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte ins Nachtleben wagte, machte ich nicht mehr alles mit. Ich merkte, wann mich eine Unterhaltung langweilte. Ich merkte, wann ich nachhause und ins Bett wollte.
Plötzlich war Kommunikation mit meinem Körper möglich.
Und ich erkannte ebenso klar, wie oft ich mir etwas vorgemacht hatte: Wie oft wir ungute Dinge vor uns selbst, aber auch anderen, herunterspielen und beschönigen. Nein, gestern war ich nicht so betrunken. Ich konnte nicht mehr gerade laufen, aber immerhin weiß ich noch alles.
Jetzt gab es wirkliche Gründe, stolz auf mich zu sein: Jemand hat mich als Spaßbremse bezeichnet, und ich habe nur gelacht. Jemand hat mich auf respektlose Weise angegraben, und ich habe Grenzen gesetzt. Mein Körper hat signalisiert, dass er genug hat, und ich bin seinen Bedürfnissen gefolgt.
Besserer Kontakt zu mir selbst
Heute ist es für mich normal, beim Feiern Mate zu trinken. Mein Partner, der Drinks aller Art liebt, bleibt bei gemeinsam besuchten Partys länger, wenn ich mich schon verabschiede. Ich halte nicht so lange durch wie die, die trinken. Und das ist ok. Mir wird auch die Lautstärke, ob von Musik oder Gesprächen, irgendwann zu viel – der Puffer Alkohol ist ja nicht mehr da.
Es ist, als ob ich durch den Alkoholverzicht allgemein besser mit meinem Körper in Kontakt gekommen bin.
Das hat dazu geführt, dass ich meine Bedürfnisse und Grenzen auch in anderen Situationen leichter kommunizieren kann.
Nicht immer, klar, aber dadurch, dass einer meiner größten Selbstwert-Störer weggefallen ist, geht es mir insgesamt viel besser.
Angenehme Nebeneffekte: Die körperliche und geistige Klarheit, die ich seit dem Alkoholverzicht erlebe. Die Möglichkeit, am Sonntag zum Sport zu gehen. Dass mein Freundeskreis sich auf diejenigen reduziert hat, die akzeptieren, dass ich Alkohol (und das, was er mit mir macht) nicht mag.
Am Anfang traute ich mir noch nicht zu, dem sozialen Druck lange standzuhalten. Ich zählte die Monate und malte stolze, kleine Smileys in meinen Kalender. Ein Vierteljahr. Ein halbes Jahr.
Neue Normalität
Doch als die Zeit verging, merkte ich, dass ich diese Dokumentation nicht mehr brauche. Es fühlt sich für mich nicht mehr wie Verzicht an; wie etwas, das Disziplin erfordert.
Es ist mein Lebensstil geworden, ganz natürlich, und ich habe kein Bedürfnis danach, zurückzukehren. Und als Corona kam und die Partys gingen – nun, da wurde es für mich noch leichter. Den Rotwein allein auf dem Sofa hatte es für mich ja ohnehin nie gegeben.
Und jetzt? Ich habe gelernt, zu tanzen, ohne angeheitert zu sein, und darin ganz neue Formen von Rausch und Körperbewusstsein entdeckt. Ich habe gelernt, offen zu sein und Kontakte zu knüpfen, ohne mir Mut angetrunken zu haben.
Wenn ich rot werde, werde ich eben rot. Wenn ich Angst habe, habe ich eben ein bisschen Angst. Und wenn ich keine Lust zu trinken habe, dann bleibe ich bei meiner geliebten Rhabarberschorle. Meine Geschmacksknospen jubilieren. Und ich auch.
Erschienen in der MAXI (Wie eine beste Freundin), 2022
Hilfreiche Informationen und Broschüren zum Thema Alkohol und Alkoholverzicht gibt es übrigens auch auf kenn-dein-limit.de.